Familie Kerl
Unfern Göttingen, zwischen den Dörfern Seeburg und Bernshausen , liegt der Seeburger See. Einst war er groß und weit, nun wird er jährlich kleiner, aber wie die Fischer sagen, so ist seine Tiefe an manchen Stellen noch immer nicht zu ergründen
Vordem stand an seiner Stelle die stolze Burg der Grafen von Isang. Der letzte des Geschlechts, der führte ein wildes gottloses Leben, dass er der Schrecken der ganzen Gegend wurde. Einst ritt er um Mitternacht zum Kloster Lindau hinab, stahl sich heimlich in die heiligen Mauern. Da sah er ein süßes Mägdelein knien vor dem Muttergottesbilde, indes die andern Schwestern schliefen, hub sie auf sein Ross und entführte sie nach seiner Burg. Wie er seinen Willen an ihr vollführt hatte, entdeckte sich, dass die Nonne seine ihm unbekannte Schwester war. Da erschrak sein Gewissen heftig, er sandte die Nonne mit Golde zum Kloster zurück, schenkte dem Kloster reiche Gaben, ließ den Altar kleiden und täglich viel Messen lesen; aber sein Herz bekehrte sich doch nicht zu Gott und bald Hub er von Neuem an, seinen wilden Lüsten zu frönen.
Wie er nun eines Tages in träger Lässigkeit sich auf seinem Lager wälzte, geschah es, dass sein Koch ihm einen silberweißen Aal brachte; der Graf meinte, es könne wohl eine Schlange sein, ließ ihn bereiten, speiste davon, verbot aber dem Diener bei seinem Leben, nichts von dem Gerichte zu genießen. Alsbald nach der Mahlzeit fielen dem Grafen all seine begangenen Frevel schwer aufs Herz. Ihm ward so heiß und eng, dass er nicht Rast hatte im Schloss, nach Luft schrie und in den Garten hinab eilte. Da trat ihm ein Bote aus dem Kloster entgegen, und sprach: Zu dieser Stunde ist Eure tugendhafte Schwester im Kloster verschieden; Euer Frevel hat sie zu Tode gebracht, ihr letztes Gebet sprach sie für Euch. Ach! seufzte Graf Isang wer nimmt mir mein elend Leben. Als er wieder nach seinem Schloss zurückgehen wollte, da hörte er auf dem Schlosshof ein seltsam Murmeln und Rauschen wie Menschenstimmen, und war ihm, als wenn die Blumen und Blätter sprächen und alles Getier redete: Enten, Hühner und Gänse im Hofe, Sperlinge und Tauben auf den Dächern. Das kam, weil der Graf von der Schlange gegessen hatte, und nun musste er die Sprache der Tiere verstehen. Sprach der Hahn: Es ist ein Sünder im Haus, wehe Graf Isang! Riefen die Hennen: Eil, eil Dich, Graf Isang! ehe die Sonne untergeht, werden die Türme Deines Schlosses fallen, wird Deine prächtige Burg versunken sein. Bete, Graf Isang!
Ergeben in sein Geschick, schritt Graf Isang zum Schlosshof hinaus und setzte sich auf einen Stein vor der Tür seines Hauses. Da trat der Hahn zu ihm heran, schlug mit dem Fittig und sprach mitleidig: Herr, kannst Dich noch retten, fliehe schnell, doch zieh allein. Soll ich allein fliehen, antwortete Graf Isang, und meine treuen Diener nicht retten? Eil eile! zieh allein! kreischte der treue Hahn.
Der Graf sattelte eben sein bestes Ross und wollte hinaus; da kam der Diener atemlos her zu, fiel ihm in die Zügel und wollte den Grafen nicht allein ziehen lassen, sondern bat, dass er ihn mitnehme auf sein Ross. Der Graf aber fragte: Was ruft der Hahn? und der Diener, der trotz des Herrn Verbot von der Schlange gegessen hatte, vergaß sich in der Angst und sprach: Willst Du Dein Leben retten, so eil' zur Stunde von hier, doch zieh allein. Verräter, schrie der Graf, hast Du mir doch Dein Wort gebrochen? Nun geh zur Ruh! In diesem Augenblicke krähte der Hahn wieder gewaltig: Eil, eil, die Sonne sinkt. Und wie der Graf aufschaute und sah, dass die Sonne schon ihre letzte Glut auf die Spitzen der Berge goss, da zog er sein